Kleine Schülerin, große Welt. Am 15. August 2019 sticht Greta Thunberg in See, um zwei Wochen später mit der Segelyacht Maliza II ihr Ziel zu erreichen: das amerikanische Ufer des Atlantiks. Ein PR-wirksames Statement gegen emissionsintensive Flugreisen, gegen die Verantwortungslosigkeit gegenüber unserem Planeten. Gretas eigentliches Ziel ist aber der Klimagipfel am 23. September in New York – zur Generalversammlung der Vereinten Nationen. Mit mehr als einem Statement. Mit einer großen Mission im Gepäck.
Nur etwa ein Jahr früher allerdings – da stand sie noch allein und unbekannt mit einem Schild vor dem schwedischen Reichstagsgebäude. Zunächst drei Wochen lang. Dann immer freitags. Anstatt zur Schule zu gehen. Und sie protestierte für die Einhaltung der Grundsätze des Pariser Klimaabkommens. Gretas einziger Begleiter: der Hashtag #FridaysForFuture. Ihm sollten sehr bald viele Anhänger folgen. Hauptsächlich Schülerinnen und Schüler, die sich vor einer Zukunft fürchten, in der unsere Erde aufgrund des menschengemachten Klimawandels zugrunde geht.
Der freitägliche Protest ist in Windeseile zu einer weltweiten Graswurzelbewegung avanciert. In Sachen Dynamik und Wirkung kann sie sich gut mit dem Klimawandel selbst messen, der stärker um sich greift, als wir jemals zu fürchten wagten. Ironie beiseite: FFF hat nicht nur extremen Zulauf, sondern auch extrem wachsenden Zuspruch. Klimaforscher und Wissenschaftler haben sich mit ihrer eigenen Initiative Scientists for Future geschlossen hinter die Schüler gestellt, profilierte Politiker wie Robert Habeck und Angela Merkel äußern Sympathien; Unternehmer, Künstler, Eltern und viele Verbände stärken ihnen den Rücken.
Dann kam da noch ein Youtuber, der die Kerninhalte von FFF in einer breiten deutschen Netzöffentlichkeit viral gehen ließ. Und schon hatten die Grünen (als – zumindest laut Parteiprogramm – designierte Umweltpartei) ihre Stimmen bei der Europawahl verdoppelt. In der Sonntagsfrage lagen sie Mitte August 2019 dann bereits bei rund 25 %, fast gleichauf mit der CDU. Und laut ZDF Politbarometer glaubten im Juni 2019 erstmals mehr als die Hälfte der Deutschen an das Wirkungsmoment der Bewegung.
Unsere politische Landschaft kommt an dem Thema nicht mehr vorbei. Sogar Markus Söder von der CSU aszendiert zum Klimaaktivisten. Ja, in Deutschland ist es FFF zweifelsfrei gelungen, den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses von der Flüchtlingsdebatte auf die Klimafrage zu verschieben. Sinnvollerweise.
“Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschah, bedeutet, für immer ein Kind zu bleiben“, sagt ein lateinisches Sprichwort. Na, dann schauen wir doch mal, ob die Geschichte den Kindern das Maul verbietet, so wie es Christian Lindner versucht hat (und wie es die Wissenschaftler aus aller Welt eben nicht tun)!
In der Tat ist FFF mit vielen historischen Protesten vergleichbar – mit wirkungsmächtigen Aktionen: der Anti-AKW-Bewegung, den Montagsdemonstrationen in der DDR, der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dem gewaltlosen Widerstand von Mahatma Ghandi oder dem Streik der Arbeiter im deutschen Kaiserreich.
Bei allen handelt es sich um passiven Protest. Und alle zeitigten letzten Endes große Erfolge: Bismarcks Sozialgesetzgebung, Indiens Unabhängigkeit, Amerikas Civil Rights Act, Deutschlands Mauerfall und Atomausstieg. Keine der Bewegungen allerdings war komplett legal. Sie gewannen ihr Momentum aus Boykott und Blockaden, durch Verweigerung.
Um tief greifende Veränderungen in einer Gesellschaft zu bewirken, braucht es also zwei entscheidende Faktoren: Gewaltlosigkeit in Kombination mit einem mehr oder weniger drastischen Mittel – zum Beispiel ziviler Ungehorsam.
Denn reine Meinungsäußerung verebbt im rasanten News-Stream unseres Always-on-Zeitalters viel zu schnell. Auf der anderen Seite haben klassische, gewaltsame Revolutionen wie die französische oder russische am Ende immer ihre Kinder gefressen. Verstörend muss er also sein, der Protest, aber nicht zerstörend.
Ich bin der Meinung, dass FFF so erfolgreich ist, weil die Schüler eben nicht nur am Samstag oder Sonntag demonstrieren; sondern gerade, weil sie streiken wie Arbeiter oder Bürgerrechtler. Weil sie damit gegen das Gesetz der Schulpflicht verstoßen. Und auch, weil sie sich damit zweifellos selbst schädigen, vielleicht sogar einen Teil ihrer (möglichen) Zukunft aufs Spiel setzen.
Das haben die Hungernden, Sich-Ankettenden, die Nicht-Arbeitenden und Unerlaubt-Demonstrierenden gleichfalls getan. Das ist – selbstverständlich – problematisch, vor allem, weil Bildung zweifellos unser höchstes Gut ist. Aber wer kann dem Argument widerstehen, das FFF zur Rechtfertigung selbst anführt: Noch das beste Wissen wird uns wenig nützen, wenn wir auf dieser Erde keine lebenswerte Zukunft haben, um dieses Gelernte zu entfalten (paraphrasiert). Die Aktion ist keine gesellschaftspolitische, sondern eine existenzielle.
Weil das Klima die Heranwachsenden betrifft wie nichts zuvor; weil sie ihr gesamtes Erwachsenenleben noch vor sich haben – oder eben nicht –; deshalb scheint das Thema sie so zu bewegen. Teilnehmende sind in der Regel zwischen 15 und 25, mehr als die Hälfte davon weiblich. Das ist eine völlig neue Qualität: Denn in dieser Altersgruppe gab es noch nie in der Geschichte ein derart wirkungsmächtiges politisches Momentum. Und mit Greta hat die Bewegung vielleicht eine Leitfigur, aber keinen Anführer. Sie entbehrt jeglicher Rechts- bzw. Organisationsform – generiert und formiert sich netzwerkartig, undogmatisch, autonom.
So viel zur Analyse. Zurück zu den Kritikern. Nicht nur Konservative, sondern auch Lehrer finden sich unter ihnen – mit einer nicht ganz unberechtigten Meinung. Es gäbe ohnehin schon zu wenig Unterricht. Die Bildung befände sich bereits auf einem katastrophalen Niveau. Wie könne man es verantworten, dass die Kinder noch weniger lernten? Dieses Argument erkennen sogar einige Aktivist*innen an, die ihren Stoff mühsam nachholen und auch nicht jeden Freitag mitlaufen – Julia Oepen zum Beispiel.
Wenn wir Bildung allerdings als Prozess des persönlichen Wachstums mit dem Wissen begreifen. Als einen Umgang mit Perspektiven und Positionen; nicht als bloße Aneignung von Fakten und Funktionen. Dann findet auf den Demonstrationen möglicherweise ein ganz gewaltiger Bildungsprozess statt.
Keine Frage, sicher sind anfangs viele Schülerinnen und Schüler mitgelaufen, weil es eine prima Gelegenheit war, um sich vor dem manchmal langweiligen Unterricht zu drücken. Bestimmt hat das zum Momentum des Protests beigetragen. Macht ja Spaß. Und Spaß zieht an. Aber wer da mitläuft, kommt an einer Auseinandersetzung mit dem Thema schwer vorbei.
Du beziehst Stellung und bist auf einmal gezwungen, dich zu rechtfertigen. Das braucht Argumente. Argumente brauchen Wissen. Also wirst Du bestrebt sein, es Dir anzueignen. Und diese Vermittlung zwischen Wissen und Meinung, das ist ein Bildungsprozess im Sinne der 21st-Century-Skills.
Dabei handelt es sich um generative Fähigkeiten, die junge Menschen – zumindest laut der Vereinten Nationen – in einer zukünftigen Gesellschaft brauchen werden. Zu ihnen gehört etwa ein kreativer Umgang mit Unsicherheit, das kooperative Arbeiten in heterogenen Gruppen, ein Sich-Zurechtfinden in komplexen Zusammenhängen und das Erleben von Selbstwirksamkeit. So ziemlich alles, was man im Alltag einer wissenschaftlich basierten, politischen Erfolgsbewegung mitbekommt und exerzieren kann.
Nun scheint mir dieses Lehrerargument trotzdem valide: Man muss nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag in Schulstreik treten, bis noch der letzte rechtspopulistische Politidiot eingesehen hat, dass auch seine eigenen Kinder keine Zukunft haben, wenn er weiter nur an sich selbst denkt, anstatt den Planeten zu retten.
Nein, man sollte dafür sorgen, dass diese bösen, revisionistischen Geister, welche wie dunkle Pilze aus dem feuchten Herbstboden der Unsicherheit sprießen, möglichst schnell von kräftigen Zukunftsblumen verdrängt werden. Deshalb darf die Bewegung nicht stagnieren, sondern muss sich transformieren; sozusagen ihre nächste Stufe zünden.
Vielleicht werden die Schüler zukünftig auch ihr Wochenende opfern. Möglicherweise blockieren sie dann nicht nur einen Tagebau, sondern auch Kaufhäuser, Autobahnen und Flughäfen. Wir dürfen gespannt sein. Auf jeden Fall sollte sich die Haltung im privaten Konsum der Demonstrierenden fortsetzen (wie es Greta selbst versucht: Verzicht auf eine CO2-emissionsreiche Lebensweise).
Und warum sollte man Kritikern nicht den Wind aus ihren Segeln nehmen? Die Schüler*innen könnten verpasste Lerninhalte gemeinsam während des freitäglichen Protests in Gruppen erarbeiten. Man muss ja nicht immer laufen, sondern kann auch sitzen – demonstrieren und frei lernen, Bildung noch mehr in die eigene Hand nehmen. Nur so eine Idee.
Außerdem braucht FFF mehr Zulauf; braucht uns alle. Wer den Kindern von heute ihre Zukunft nicht versagen will, sollte da mitmachen. Überall auf der Welt. Bis wir die Ziele erreichen, um unser Klima zu retten. Was diese Schüler da losgetreten haben, könnte die letzte Chance sein, um das Fortbestehen der Menschheit auf diesem Planeten zu ermöglichen.
Wenn ich – als Vater, Mutter oder Freund*in – in die unschuldigen, vor Neugier glänzenden Augen eines kleinen Kindes sehe; wenn sich so ein kleiner Mensch dann voller Liebe in meine Arme wirft, voller Vertrauen darin, dass ich ein Teil der Sicherheit seiner Welt bin – dann muss ich aufhören, schlau daherzureden. Dann kann ich nicht anders, als mich den Demonstrierenden anzuschließen – zum Beispiel am 20. September oder an anderen (weltweiten) weltweiten Klimaprotesttagen. Kannst Du das auch? Dann tu, was Du kannst!
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