Liebe*r Leser*in, ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich bin ein Rassist. Bäm! Das hättest du nicht gedacht, oder? Ich auch nicht. Möchte keiner sein. Natürlich. Fast niemand will das. Selbst Rechtsradikale streiten es ja ab. Und ich würde mich politisch eindeutig links der Mitte verorten. Ist so. Hilft aber erst mal gar nichts. Denn ja, Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) in Deuschland erleben jeden Tag Rassismus. Und irgendwo muss der ja herkommen. Warum sollte also gerade ich nicht mitverantwortlich dafür sein?
Bereit für die nächste Konfrontation, liebe*r Leser*in? Gut, sofern du Weiß** bist und dich nicht schon jahrelang damit auseinandersetzt, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass die obige Aussage auch auf dich zutrifft. Struktureller Rassismus regiert dein Denken und bestimmt dein Handeln (in einem gewissen Grad). Warum? Das können wir gemeinsam ergründen. Und zwar, ohne dich oder mich für gesellschaftlich vermittelte Denkmuster zu verurteilen. Konstruktiv und mitfühlend. Let’s go!
Bist du BIPoC-Deutsche*r? Dann hoffe ich, dass dir bald mehr Weiße** zuhören, dich ernst nehmen, dich als gleichwertigen Menschen anerkennen und behandeln.
TRIGGERWARNUNG: Dieser Artikel enthält Beschreibungen, die traumatische Rassismuserfahrungen reproduzieren und reaktivieren können.
Rassismus, das ist ein tief verankertes, ideologisches System zur Rechtfertigung und Erhaltung von Machtverhältnissen und Privilegien – im Dienst der Weißen**. Wenn man etwa Exit Racism von Tupoka Ogette (das momentan vielleicht prominenteste Buch zum Thema) liest, wird es einem schmerzlich bewusst. Ungleich schmerzlicher ist diese Tatsache allerdings für unsere Schwarzen** Mitbürger*innen, für Indigenous and People of Color in Deutschland. Was sie täglich erleben, wie sie sich dabei fühlen, wirst du möglicherweise kaum glauben – zumindest ging mir das so.
Ich schreibe diesen Blogbeitrag als Weißer** deutscher Mann – noch nicht alt, aber bald. Und ich habe mich dafür mit einer Schwarzen** deutschen Freundin ausgetauscht, um das Thema besser verstehen und beschreiben zu können; aber auch, um einen unmittelbareren (ersten) Eindruck über die Erfahrungen und Empfindungen der BIPoC-Community geben zu können.
Diese Frau ist in der Auseinandersetzung mit dem Thema natürlich auf einem ganz anderen Level unterwegs – gezwungenermaßen. Rassismus beschäftigt sie täglich, seit der frühen Kindheit. Auf ihrem Computer gibt es zwei Hauptordner. Einer heißt ‚Leben‘. Der andere heißt ‚Rassismus‘. Nur mal so am Rande.
Ich werde mich im Folgenden auf zwei bestimmte Gruppen rassifizierter und rassifizierender Menschen konzentrieren: auf Schwarze** und Weiße** Deutsche – also beispielhaft auf anti-schwarzen Rassismus. Dass People of Color nicht minder von Rassismus betroffen sind, bitte ich, dabei immer vor Augen und im Kopf zu behalten. Danke fürs Verständnis.
Und ich möchte noch eine wichtige Erkenntnis vorwegschicken: Es ist nicht die Aufgabe von Schwarzen**, uns Weißen** dabei zu helfen, das zu überwinden, womit wir sie die ganze Zeit quälen. Das mögen kleine, unabsichtliche Taten sein, die wir gern abstreiten. Doch die Wirkung – gerade von (vermeintlich) subtilem Rassismus – bleibt. Sie entwickelt in der schieren Masse eine unfassbare Kraft. Egal, ob Absicht oder nicht.
Und niemand kann verlangen, dass Opfer von Gewalt die Täter*innen therapieren. Das müssen wir schon selber machen. Es ist an uns Weißen**, die Verantwortung zu übernehmen – nicht die Schuld. Keine*r von uns hat sich die gesellschaftlichen Ideologien ausgesucht, in denen er/sie groß geworden ist. Indes, wenn uns jetzt irgendetwas hilft, dann Auseinandersetzung und Dialog. Also sprechen wir darüber – mit allen!
Wie tief rassistisches Denken gesellschaftlich verankert ist, zeigt der Doll-Test. Schau dir das Video unbedingt an! Darin werden relativ junge Kinder aufgefordert, Puppen unterschiedlicher Hautfarben zu beurteilen: hinsichtlich gewisser Eigenschaften wie gut oder böse, beliebt oder unbeliebt etc.
Fast alle Probant*innen belegen dabei die Puppen dunklerer Hautfarbe mit negativeren, die Puppen hellerer Hautfarbe mit positiveren Begriffen. Das geschah und geschieht unabhängig davon, welche Hautfarbe die Kinder selbst haben. Der Test wurde Anfang 1940 von den Wissenschaftler*innen Kenneth und Mamie Clark erstmals durchgeführt. 2010 hat CNN ihn wiederholt. Mit ähnlichen Ergebnissen. Rassistisches Denken wird früh vermittelt und mental verankert. Das ist in den USA nicht anders als in Deutschland:
Jede Handlung – bewusst oder unbewusst – beginnt im Kopf. Wie sehen also rassistische Denkmuster bei Deutschen aus? Ein wirklich reflektierter Journalist – Philip Banse – hat dies im Podcast „Lage der Nation“ einigermaßen mutig und eindrücklich beschrieben. Erschrocken schildert er seine erlebten Gedanken in einer alltäglichen Situation, nämlich als vor ihm drei Schwarze* Männer gemeinsam an einem Geldautomaten stehen, er hinter ihnen wartet und es ein wenig dauert. Warum dauert es? Seine spontanen inneren Annahmen lauten:
Banse ist erschüttert: Das habe ich wirklich gedacht? Scheiße. Ironischerweise schafft er es nach eigener Aussage dann selbst, seine Karte viermal hintereinander falsch in den Geldautomaten zu stecken. So funktioniert strukturell rassistisches Denken.
Hätten ich oder du genauso gedacht? Kann sehr gut sein. Ich habe mich schon selbst etwas erstaunt beobachtet, wie der kleine Rassist in mir beim Kauf oder Verkauf auf Ebay-Kleinanzeigen den Menschen mit deutschen Namen Vorzug geben will, gegenüber arabischen etwa. Oder anders herum: Wie sich mein positivrassistisches Ich besonders freundlich gegenüber unbekannten Schwarzen* Menschen verhält.
Ober beim Sprechen über den Urlaub: „Als ich in Afrika war …“ In Afrika? Nein, ich war in zwei Ländern auf diesem Kontinent, den wir Weißen** Europäer*innen heute noch immer als entwicklungsbedürftiges Konglomerat zusammenfassen; als wäre es ein Land. Und bestimmt, ganz bestimmt habe ich auch schon mal eine Schwarze** Person oder Person of Color nach ihrer Herkunft gefragt, obwohl wir uns noch nicht lange kennen. Niemand würde auf die Idee kommen, mich beim dritten Satz, den wir wechseln, nach meiner Herkunft zu fragen. Ich bin nämlich Weiß**. Ich bin der gesellschaftlich gedachte „Normalfall“.
Jetzt stell dir mal vor, du wärst Schwarze*r** Deutsche*r (falls du es nicht bist und das alles leider viel zu gut kennst). Wie sieht dein Alltag aus? Glaub mir: nicht sehr entspannt. Und das liegt längst nicht nur an der Möglichkeit, Opfer physischer rassistischer Gewalt in bestimmten Gegenden des Landes zu werden (natürlich wird auch diese Angst dich immer begleiten wie ein dunkler Schatten).
Nein, Du wirst täglich das Gefühl haben, nicht dazuzugehören. Auf vielschichtige Art und Weise. Hier seien ein paar Beispiele gegeben, angefangen beim offenkundigen verbalen Angriff über subtilere Formen der Mikroaggressionen bis hin zur ganz leisen, ständigen strukturellen Ausgrenzung.
Die institutionelle und physische Diskriminierung ist deine Lebenswirklichkeit. Du wirst durch ganz viele Dinge daran erinnert, dass du hier nicht hingehören sollst. Beispielsweise:
Es gibt noch viele, viele andere Beispiele für Alltagsrassismus und Unterprivilegierung, die dich als Schwarze*n** Deutsche*n betreffen. Allen liegt das gleiche Konzept zugrunde, nämlich Othering: sie machen dich zum/zur Anderen** im Kontrast zum vermeintlichen „Normalen“, zum Weißen**. Am deutlichsten drückt sich dies im rassistischen Begriff „Farbige“ aus (noch krasser im N-Wort). Ein Konzept, dem du und deine Community die Selbstbezeichnung „Black, Indigenous and People of Color“ entgegensetzt. Damit markierst du Rassifizierung, die dein Leben prägt. Aber was macht dieses tägliche Erleben mit dir?
Du leidest höchstwahrscheinlich unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung und/oder unter vererbten Traumata. Immerhin wirst du ständig angegriffen, mal leicht, mal stark. Aber wie bei radioaktiver Strahlung kann eine geringe Dosis über lange Zeit genauso schädlich sein wie eine starke in kurzer Zeit.
Du bist müde, weil du jeden Tag gegen Ausgrenzung, Benachteiligung und Beleidigung ankämpfen musst. Du bist ständig mit diesem Thema beschäftigt, das dir die Kraft nimmt, dich mit Dingen auseinanderzusetzen, die du lieber tätest.
Und wenn du über Rassismus sprichst, wird das, was du sagst, relativiert. Du empfindest Ohnmacht gegenüber der normativen Weißen** Macht, die dich täglich verletzt. Vielleicht gibst du irgendwann auf. Aber du willst nicht und hoffst, dass sich jetzt dank der Rassismus-Debatte auch verstärkt – und vor allem – Weiße** Deutsche mit ihren inhärenten rassistischen Verhaltensweisen auseinandersetzen (und nicht nur die Schwarze** Community mit dem Rassismus der Weißen**).
Dem bewussten Empfinden von Rassismus liegt immer ein individueller Erkenntnisprozess zugrunde. Als Schwarze*r**, der/die rassifiziert aufwächst, realisierst du in der Regel eine zeitlang nicht, was da mit dir passiert. Du leidest, fühlst dich schlecht, suchst die Ursache aber erst mal bei dir selbst. Eben, weil dir die Gesellschaft vermittelt, dass du das Problem bist. Rassismus wird als kollektive Gehirnwäsche vermittelt. Beispielhafte Wirkungen:
In diversen westafrikanischen Ländern etwa blicken Schwarze** Einwohner*innen auf zu Weißen** Entwicklungshelfer*innen, anstatt auf landeseigene Kräfte zu setzen. In den USA behandeln manche Schwarzen** Mütter ihre Kinder absichtlich hart, um sie auf die rassistische Härte der Gesellschaft vorzubereiten.
Rassifizierende Denkmuster als solche zu entlarven, sich selbst als Opfer (bzw. „Objekt“) solch gewaltvoller Zusammenhänge zu begreifen, ist ein Entwicklungsprozess, den jede*r BIPoC durchmachen muss. Du kommst an den Punkt, wo du die eigene Unfreiheit realisierst, das Vokabular dafür findest; anfängst, Rassismus zu dekonstruieren. Im besten Fall gelingt dir diese Entkolonialisierung des Selbst. Du stehst auf und kämpfst gegen das rassistische System, es befreit dich langsam. Und hoffentlich erfährst du dabei Unterstützung – nicht nur aus der Schwarzen** Community. Und damit wechseln wir die Perspektive wieder, um konstruktiv zurückzukehren zu den „normativen“ Deutschen.
Du, liebe*r Leser*in hast jetzt sicher verstanden, was struktureller Rassismus ist und wie es Schwarzen** Menschen in Deutschland geht. Wir Weißen** sehen das nicht. Wir befinden uns in einer ideologischen Blase, die Rassismus tabuisiert. Er findet hier nicht mehr statt, lautet das Narrativ nach dem Völkermord des Dritten Reichs. Wir wollen raus aus der Schuld. Es hat nicht zu sein, was nicht sein darf – und damit ist es auch nicht.
Tupoka Ogette nennt diesen Verblendungszustand in ihrem Buch „Happyland“: Uns geht es gut. Wir sind „weltoffen“ und „tolerant“. Niemand will etwas Böses. Aber leider sind Intention und Wirkung nicht immer deckungsgleich. Und wir handeln rassistisch, ohne das offen zugeben zu können.
Denn rassistisches Denken gehört seit 500 Jahren zu unserer Kultur. Die Ideologie ist perfide. Man kann sich ihr zunächst nicht entziehen (wie der Doll-Test zeigt). Und sie wurde von den Kolonisierenden installiert, um die Gräueltaten und Massenmorde, die sie verübten, zu rechtfertigen. Unmenschlichkeit lässt sich nämlich nur ausüben und ertragen, indem man jenen, gegen die man sie ausübt, ihre Menschlichkeit aberkennt. So funktioniert das Grundprinzip von Rassismus. Othering. Abwertung. Ausgrenzung. Und wir müssen da raus.
Die gute Nachricht: Wir können da raus. Das ist eigentlich gar nicht schwierig. Es erfordert nur ein wenig Offenheit, Ehrlichkeit, Anerkennung – natürlich auch aktive Auseinandersetzung, Änderungsbereitschaft und Dialog.
Wenn sich Weiße** Deutsche mit ihrem eigenen Rassismus beschäftigen, gibt es laut „Exit Rasicm“ verschiedene Stadien, die sie durchlaufen.
Wenn du beginnst, dich selbst und andere zu beobachten, dich mit der Rassifizierung von BIPoC-Deutschen auseinanderzusetzen, wirst du diese Stufen vermutlich durchlaufen. Es ist kein schöner Prozess, aber ein befreiender.
5. Am Ende steht die Anerkennung der Realität. Und daraus folgt Verantwortung.
Wenn alle Happyland verlassen, wird es kein Happyland mehr geben. Und dann können wir unseren Rassismus auch überwinden.
Antirassistisches Handeln beginnt im Denken. Sprache prägt das Denken – und umgekehrt. Es gilt also, rassistische Begriffe unbedingt zu vermeiden. Dazu gehören neben dem N- und M-Wort auch Othering und Entmenschlichung ausübende Konzepte wie „Farbige“, „Mulatt*in“, “Mischling“, „Maximalpigmentierte“ etc.
Sinnvoll sind dagegen Selbstbezeichnungen wie Schwarze**, People oder Person of Color und/oder BIPoC – aber auch die kritische Eigenetikettierung von Weißen** als Privilegierte.
Wir sollten andere darauf hinweisen, wenn sie strukturellen Rassismus ausüben; bestimmt dagegen aufstehen, es nicht schweigend zulassen. Wir müssen aber auch gegen rassistische Kulturgüter ankämpfen – uns von diesen trennen. Es kann nicht sein, dass Sarotti stolz über seine Markengeschichte spricht. Es ist absolut inakzeptabel, dass es in Deutschland noch zahlreiche M-Wort-Namen für Straßen, Architekturobjekte und Institutionen gibt.
Nicht erst seit dem grässlichen Mord an George Floyd findet eine konstruktive Auseinandersetzung mit Rassismus in Deutschland statt – seitdem aber verstärkt. Und es gibt auch zahlreiche positive Beispiele, die Mut machen – gute Perspektiven:
Dieser Artikel ist zum Lesen vielleicht viel zu lang (danke, dass du es bis hierhin geschafft hast!) – und viel zu kurz, um dem komplexen Thema auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Damit du nun möglichst einfach in eine echte, tiefe Auseinandersetzung einsteigen kannst (falls du noch nicht drin bist), möchte ich dir zum Schluss noch ein paar Literatur-Empfehlungen geben. Mach dich schlau und mach dich auf in eine bessere Gesellschaft –und zwar gemeinsam mit der gesamten Gesellschaft!
Vielen Dank an Catharina Meier für die fachliche Unterstützung und ihr Engagement!
** = Ich folge der Autorin des Buchs Exit Racism in der Schreibweise Schwarze/Weiße Menschen. Die (nicht orthografiekonforme) Großschreibung soll explizit darauf hinweisen, dass es sich hier primär nicht um Ethnien oder Hautfarben, sondern um soziokulturelle Gruppen handelt. Die einen sind von Rassismus bestimmter Art betroffen. Die anderen sind diejenigen, welche die ersteren strukturell rassifizieren. Diesen Zusammenhang explizit zu benennen, sehen wir als Teil sprachlicher Emanzipation.
Tolle Übersicht und Zusammenfassung zu diesem komplexen, wichtigen Thema. Thanks
Vielen Dank für diesen Artikel! Hat vieles aufgezeigt, was mir (als Weiße) leider leider nicht bewusst war und was definitiv ein Ende haben muss.
Weitere Auseinandersetzung folgt!
Au Backe – frage mich gerade auf welcher Stufe der Erkenntnis ich heute stehe. Fühlt sich nicht gut an wenn man für sich selbst reklamiert doch gerne zu den „Guten“ zu gehören. Bin überrascht einen Artikel von dieser Qualität HIER? zu lesen. Danke für den Augenkopfherzöffner.
Danke für Dein Lob. Wir bemühen uns stets, gute Artikel anzubieten. Aber natürlich stechen einige mehr heraus als andere. Das Lob gilt unserem Autor Ronny Weise! (Hilmar von der Preussenquelle)
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