Vom Uns zum Wir



Vom Uns zum Wir



Sars-CoV-2 fordert alle heraus – nicht zum Kampf, sondern zum guten Handeln

Völlig unvermittelt ist das gesellschaftliche Leben implodiert. Die Welt steht nicht. Sie liegt. Aufs Existenzielle zurückgeworfen, sind wir gezwungen, einen Weg zu beschreiten, der für alle hart, für manche härter und für viel zu viele tödlich ist. So schlimm es ist – die Menschheit kann gerade jetzt eine neue Solidarität entwickeln. In sanfter Liebe zu den Nächsten und Fernsten. Lasst uns handeln und daran zusammenwachsen!

 

Die Entleerung der Welt. Bleibt alles anders? (Photo by 🇨🇭 Claudio Schwarz | @purzlbaum on Unsplash)

 

 

Jede*r spürt es in diesen Tagen, Wochen und Monaten am eigenen Leib: Das Leben hat sich verlangsamt, als ob die Luft dicker geworden wäre, an Masse und Widerstand zugenommen hätte. Ein zähes Etwas, das seinen Ursprung im Unsichtbaren hat, dringt bis tief in unsere Köpfe.

Abstrakt, ungewiss, bedrohlich wie radioaktive Strahlung ist dieses Virus. Und es strahlt aus in seiner Wirkung, verändert oder zerstört das Zusammenspiel der wichtigsten Elemente unserer Gesellschaft – bis hin zum Stillstand. Ein Roulette des Schicksals.

Wie geht es dir damit?

Ihr werdet das auch feststellen: In jenen täglichen Gesprächen, von denen man* mehr führt als sonst, taucht immer wieder dieses lang verschwundene Thema auf: Demut. Jenes Bewusstsein darum, dass eigentlich nichts selbstverständlich ist. Wir sind unsicher geworden. Sorgen uns um Gesundheit, Lebensstandard, Zukunft. Und, na klar, zu Recht.

Manche reagieren darauf mit Angst, andere überspielen es mit Späßen. Aber ich glaube, dass wir letzten Endes alle ähnlich fühlen. Denn SARS 2 scheint jede*n gleichermaßen zu betreffen. Oder?

 

Ein kleines Ding schlägt Riesenwellen: Sars-CoV-2 +++ Photo by CDC on Unsplash

 

Sitzen wir alle im gleichen Boot?

So unterschiedlich die Menschen sind – sitzen sie in Zeiten der viralen Flutwelle auch alle im gleichen Boot? Ja und Nein. Denn die Metapher hinkt: Unsere Brüder und Schwestern auf dem ganzen Globus sind in vielen, sehr unterschiedlichen Schwimmvehikeln unterwegs auf jener hohen See der Pandemie.

COVID-19 kann zwar potenziell jede*n erwischen, die Schwachen aber mit viel höherer Wahrscheinlichkeit. Da denke ich nicht nur an Alte und Erkrankte, sondern auch an Heimlose und Arme. Gemeinsam treiben wir in den wogenden Wellen eines unerbittlichen Jahrhundertsturms. Einige von uns kentern da viel leichter und schneller als andere. Verschluckt werden sie zu Tausenden, langfristig womöglich zu Millionen.

Bin ich wichtig oder nichtig?

Das tut schon weh, wenn frau* dran denkt. Und daran gibt es auch nichts zu beschönigen. Um so mehr ist es ein kleiner Lichtblick, zu sehen, wie eine Gesellschaft auch in der Krise funktionieren kann. Wie wichtig die ganzen, viel zu gering geachteten Berufe jetzt sind: Pflegende, Ärzt*innen, Verkäufer*innen, Stadtreinigende, Paketdienstleistende, infrastrukturell Versorgende und Polizist*innen.

In Dankbarkeit und vollkommen zwangsentschleunigt habe ich mich da – wie viele vielleicht – angefangen zu fragen, was nun wohl meine Rolle in der ganzen Sache sei. Erfülle ich überhaupt eine? Mit Sicherheit keine systemrelevante. Nicht ansatzweise. Bin als lächerlicher Schreiber eigentlich völlig verzichtbar. Kann ich das ändern? Was wäre meine Aufgabe? Und: Geht dir das auch so?

 

 

Die Encyclopedia Galactica rät zur Besonnenheit und Selbstreflexion (Photo by Avinash Kumar on Unsplash)

 

 

Was können wir nun tun?

Ich glaube, dass jede*r eine Menge tun kann und dass wir gemeinsam viel schneller aus dieser Misere kommen können, wenn wirklich alle an alle denken. Immer und ständig.

Es geht darum, die eigene kleine Welt zu verlassen – sich selbst, aber auch den Kreis von Familie und Freunden. Es geht darum, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einzunehmen. Die Frage lautet nicht: Wie schützen wir uns am besten? Sie muss lauten: Was bedeutet mein Handeln für das große Ganze – und wie verhalte ich mich da am besten?

 

Weg vom abgrenzenden Uns – hin zum umfassenden Wir

Diese Denke ist wohl in der asiatischen Kultur etwas tiefer verankert als im kollektiven Ich unseres eher individualistischen Lebensstils. Aber genau so, wie die Aufklärung in der westlichen Welt einst Selbstverantwortung einforderte, kann vielleicht eine Art zweite Aufklärung unser Handeln erneut transformieren zur allumfassenden Verantwortung eines/-r jeden – im Sinne vernetzt und global denkender Persönlichkeiten. Keinesfalls unter Aufgabe der individuellen Freiheit wie in China! Eher auf dem Weg zu einer echt solidarischen Gemeinschaft freier Geister.

 

Sich nur um den eigenen Arsch zu sorgen, ist eine wenig hilfreiche Philosophie (Photo by visuals on Unsplash)

 

 

Wie wird individuelles Handeln zur Kultur des Miteinanders?

Die Grundlage zu solch einem Umdenken ist natürlich sehr hoher moralischer Natur. Ein richtiger Kraftakt. Denn man muss sich dafür immer wieder selbst hinterfragen – in Hinblick auf universelle ethische Prinzipien. Aber es ist auch eine gute Nachricht für alle, die bereits versuchen, reflektiert zu leben: Wer seinen Konsum umweltbewusst und sozial umgestaltet, z. B. Bio kauft, sich politisch engagiert oder gesellschaftlichen Wandel auf andere Weise unterstützt, denkt nämlich bereits auf dieser höchsten Stufe der Moral.

Das ist ein Prozess. Immerhin stellt sich die Frage nach dem guten Leben ja grundsätzlich jedem/-er. Und alle beantworten wir sie mit unseren ganz eigenen ethischen Vorstellungen. Aus vielen Einzelansichten leiten sich dann die Werte unserer Gesellschaft ab. Sie werden so zu einer Art kollektiver Ethik: zur Moral. Moral ist die Basis der Gesetze. Und je höher die kollektive Einsicht in jene allgemeine Moral entwickelt ist, desto höher ist auch die Fähigkeit, sie gemeinsam weiter zu entwickeln. Übergesetzliche Transformation. Geile Sache. Schwierige Geschichte.

Moralische Entwicklung bedeutet, im Dialog mit anderen über das, was ist, hinauszudenken (Photo by George Pagan III on Unsplash)

 

Was ist Moral und warum brauchen wir ihre höchste Form?

Nach Lawrence Kohlberg, einem ziemlich coolen Soziologen, gibt es drei Entwicklungsstufen des moralischen Denkens:

  1. Die erste heißt präkonventionell und beschränkt sich auf das Erreichen persönlicher Vorteile im Wechselspiel mit der Gesellschaft, zum Beispiel Trumps Deal-making.
  2. Die zweite ist am weitesten verbreitet und beruht auf der Anerkennung und dem Einhalten gemeinsamer Konventionen: Law-and-order aus Einsicht in den Sinn gegebener Regeln des Zusammenlebens.
  3. Erst auf der postkonventionellen Stufe können wir aber gemeinsam über den sozialen status quo hinauswachsen. Etwa, indem wir Maximen verhandeln und ihnen folgen, ohne dafür feste Regeln zu brauchen. Indem wir aus dem Verständnis allgemeiner ethischer Prinzipien der Mitmenschlichkeit handeln. 

Und ist es nicht genau das, wozu uns dieses kleine böse Virus mit seinem absolutistischen Krönchen zwingt: zu Herrschaft der Nächstenliebe?

 

Hat die Fragerei langsam mal ein Ende?

Na klar, aber nur dann, wenn alle mitmachen. Wir sind da auf einem ziemlich guten Weg in Deutschland. Man* kann beobachten, wie sich Menschen auf der Straße in die Augen schauen, einander grüßen und anderen Hilfe anbieten.

Solange allerdings Nachbarn gemeinsam grillen, weil es im Hinterhof keine Polizeikontrollen gibt (präkonventionelle Moral), darf frau* sich fragen, ob ein großes Wir tatsächlich möglich ist.

Solange die Menschen in Supermärkten keine Masken tragen oder den Mindestabstand strikt einhalten, darf man* skeptisch sein, ob die Basisreproduktionszahl dauerhaft unter 1 sinken kann.

Und solange nicht alle bereit sind, noch mehr persönliche Abstriche zu machen, um gemeinsam mehr zu gewinnen, als sie vorher hatten, darf frau* wenigstens an sie appellieren.

Jetzt aber genug mit dem theoretischen Gelaber. Schauen wir uns lieber mal an, wie das gute Handeln geht! Denn es gibt schon ganz viel davon.

 

§1 unserer Straßenverkehrsordnung ist eine Maxime, keine Regel: Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. Sie hilft auch in Corona-Zeiten. (Photo by Evgeni Tcherkasski on Unsplash)

 

Selbstverständlich: moralische Handlungen zweiter Stufe

Wir können uns nämlich schon ein bisschen auf die Schultern klopfen:

Es ist toll, wie immer mehr Menschen die gesetzlichen Abstands- und Hygieneregeln befolgen – nicht aus bloßer Angst vor Strafen, sondern vermutlich aus Einsicht in deren Sinn (konventionelle Moral). Noch viel schöner finde ich allerdings, dass sich die Anzahl der selbst genähten Gesichtsmasken im öffentlichen Raum langsam erhöht. Eine hilfreiche Handlung, aber vor allem ein wundervolles Zeichen des Respekts vor der Gesundheit anderer.

Der Dienst von Angestellten in Krankenhäusern wird mit Klatschparaden und Plakaten symbolisch honoriert. Einkaufende bedanken sich an den Supermarktkassen bei Verkäufer*innen für das Risiko, welches diese mit ihrem Job auf sich nehmen. Und – hier noch ein kleiner Vorschlag – warum sollten wir nicht jedem Menschen, der uns auf der Straße begegnet, ein Lächeln der Zuversicht schenken? Kostet nichts. Erfordert keine Mühe. Tut gut.

 

Bedingungslose Hilfe aus Einsicht in die große gemeinsame Aufgabe – eine Kampagne der neuseeländischen Regierung (CC By New Zealand Government, https://covid19.govt.nz/resources-and-translation/resources/)

 

Neue Solidarität: moralische Handlungen dritter Stufe

Einfach mitmachen, anstatt Gebotenes zu ignorieren. Das ist, so komisch es klingt, schon total viel. Denn die meisten sind es ja gar nicht gewohnt, gemeinschaftlich zu denken. Und niemand trägt die Schuld daran (es hat sich mit dem Neoliberalismus eben so entwickelt). Schuld, dieses Konzept hat in Zeiten von Corona genauso ausgedient wie der Egoismus. Vielmehr zählt Engagement.

Das unerwartete, wie ein Feuerwerk der Liebe um sich greifende ehrenamtliche Handeln und Helfen drückt sich auf verschiedenen Ebenen aus: digital, analog, finanziell, physisch. Es ist klar postkonventionell, widmet sich im ganz Kleinen dem großen Ganzen, ohne dafür Regeln zu brauchen. Es ist wie eine Oase in der Wüste oder wie eine Insel nach dem Schiffbruch: die größte Hoffnung für uns alle.

 

Nächstenliebe beginnt im Kopf – und direkt vor der Wohnungstür (Photo by Nina Strehl on Unsplash)

 

Digital: Informationen können Köpfe retten

COVID-19 kommt wohl mit mehr Unbekannten daher, als sich Spike-Proteine an der Oberfläche des verursachenden Virus Sars-CoV-2 finden. Und unsere Wissenschaft tut alles, um Antworten auf die vielen Fragen – Lösungen für die vielen Probleme zu finden. Wir können sie dabei unterstützen, zum Beispiel mit der Rechenpower des eigenen Computers. Frau* kann sie der Standford University zur Analyse und Simulation von potenziellen Medikamenten zur Verfügung stellen.

Eine andere Möglichkeit ist die Preisgabe anonymisierter Informationen zum eigenen Zustand auf der Seite fasterthancorona.de oder mit der Datenspende-App des RKI. Als wichtigste Maßnahme müssen wir aber wohl das Benutzen der europaweiten Kontaktverfolgungs-App ansehen.

Auch Aufklärung zu den Fakten hinter der Pandemie, ein Engagement gegen Desinformation in sozialen Netzwerken oder regelmäßiges Videochatten mit Verwandten oder Unbekannten, die psychische Unterstützung brauchen, kann ein großer digitaler Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sein – rational wie emotional.

 

 

Finanziell: Geld gibt Existenz

Die Bundesregierung macht Milliarden locker, um bedrohte Existenzen zu sichern. Ein toller Move aus Einsicht in die Erhaltung unserer Wirtschaft. Und jede*r kann dabei mitmachen, kann bedrohte Unternehmen mit ein paar Euro unterstützen, zum Beispiel durch den Kauf von Gutscheinen bei all den Geschäften, die infolge der Lockdown-Maßnahmen schließen mussten: über Plattformen wie lokalsupport.com oder helfen-shop.berlin

Sofern vorhanden, sollten wir zudem Online-Shops kleinerer Läden nutzen oder die Verkäufer aktiv telefonisch kontaktieren, um auf dem Postweg bei ihnen einzukaufen. Das Vermeiden von Bestellungen bei Amazon rettet übrigens auch Existenzen – gerade jetzt.

Spenden sind natürlich immer eine sinnvolle Form, vor allem die Schwächsten zu unterstützen. Die Preußenquelle zum Beispiel gibt 2 Cent von jeder verkauften Flasche Wasser an die Berliner Obdachlosenhilfe e. V. weiter. Denn Menschen ohne festen Wohnsitz, erfahren in diesen Zeiten viel zu wenig Unterstützung.

 

Helfen ist ein Vorgang, der sich auch kontaktlos gestalten lässt (Photo by Free To Use Sounds on Unsplash)

 

Physisch: Hilf mit deiner Hand!

Nicht nur Geld kann man* Bedürftigen spenden, sondern auch Essen. Das geht ganz einfach über Portale wie speisekombinat.com Eine andere Variante des unmittelbaren Schenkens: die angespannte Medizin unterstützen, mit einer Blutspende. Überhaupt ist physisches Handeln die vielleicht stärkste Form von Solidarität, weil sie so viel Gesicht zeigt – und gegenständliche Anstrengung erfordert.

Das fängt dort an, wo wir zu Hause sind: in der Nachbarschaft. Wir können für Risikogruppen oder unter Quarantäne stehende Menschen einkaufen, Behördengänge erledigen, Hunde ausführen, Berufstätige bei der Kinderbetreuung unterstützen oder ein Ohr für die Sorgen von psychisch Labilen haben, Hilfe durch Gespräche anbieten (am Telefon, am Fenster, an der frischen Luft).

Zur Vermittlung von Helfenden und Hilfesuchenden gibt es zahlreiche Angebote, zum Beispiel die Seiten wirgegencorona.com, nebenan.de oder quarantaenehelden.org, aber auch städtisch organisierte ehrenamtliche Tätigkeitsfelder.

 

Systemisch: Entlastung der Versorgung

Gerade jetzt, wo manche von uns mehr Zeit haben, kann es eine tolle Erfahrung sein, sie für das Gemeinwohl einzusetzen. Weg vom Schreibtisch, hinein ins ganz konkrete Handeln auf höherer Ebene! So brauchen bekanntermaßen gerade Bauern aufgrund von Reisebeschränkungen Unterstützung bei der Ernte. Mitmachen kannst du unter daslandhilft.de

Und hier schließlich noch die nahe liegendste, schon immer überlastete, vielleicht wichtigste Adresse: unsere medizinische und pflegerische Versorgung. Um dort zu helfen, braucht es nicht zwingend eine qualifizierte Ausbildung. Es wird nämlich auch nach administrativer und hilfsarbeiterischer Unterstützung gesucht. Das Portal wirwollenhelfen.com vermittelt.

 

„Hoch die internationale Solidarität“ ist eine Phrasenflasche, die wir genau jetzt mit selbstlosem Handeln füllen können (Photo by Tim Mossholder on Unsplash)

 

Letzte Frage: Was nehmen wir mit?

Die einen haben mehr Ressourcen, die anderen weniger. Aber irgendetwas tun kann jede*r. Und vielleicht ist es gerade das Engagement im Kleinen oder auch nur der lebensrettende, respektvolle Abstand, welcher/-es uns auch über die Corona-Krise hinaus zu einem neuen Miteinander inspiriert.

Menschen sterben, Existenzen zerbrechen, eine Naturkatastrophe läuft in Zeitlupe ab (wie es Christian Drosten benannt hat). Und Solidarität ist meines Erachtens die einzige Art, damit umzugehen. Die Welt braucht mehr Bewusstsein für Zusammenhänge, mehr internationale Zusammenarbeit, mehr supranationale Wagnisse wie Europa und mehr Gemeinschaftsdenken in den jeweiligen Gesellschaften. Kurz und mit den Worten eines Hippies: mehr gelebte, universelle Liebe. Dann wird vielleicht nicht alles wieder gut, aber bestimmt vieles ein bisschen besser.

 

Es wäre zynisch, nach dem Guten in COVID-19 zu suchen. Es wäre aber auch schade, wenn wir mit dem Schlechten nicht bestmöglich umzugehen versuchen. (Photo by Morvanic Lee on Unsplash)

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*Anmerkung = Gendern ist aus linguistischer Sicht genauso schwierig wie nötig. Ich versuche, verschiedene Möglichkeiten miteinander zu kombinieren. Experimentell oder konventionell – es seien immer alle mitgemeint.



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